Herr Müller und Herr Pielenhofer, Sie haben eine Expertenbefragung zum Thema „Apothekenvertrieb in 2023 unter Druck“ durchgeführt. Was sind die zentralen Ergebnisse Ihrer Studie?
Müller: Die Studie zeigt, dass die schwierigen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der steigende Kostendruck erhebliche Auswirkungen auf die Struktur und Größe des Consumer-Healthcare-Vertriebs haben. Insbesondere der Außendienst steht unter hohem Druck. Fast die Hälfte der befragten Unternehmen hat deshalb den Außendienst bereits im vergangenen Jahr reduziert, 46 Prozent planen für 2023 einen weiteren Personalabbau. Das Key-Account-Management hingegen gewinnt kontinuierlich an Bedeutung.
Pielenhofer: Das Targeting wurde von den meisten Unternehmen angepasst, wie unsere Umfrage deutlich macht. Der individuelle Wert der Apotheke für das Unternehmen wird zum Schlüsselfaktor für die Außendienststeuerung. Darüber hinaus wird auch deutlich, dass die meisten Pharma-Großhändler, Apotheken-Kooperationen und besonders Online-Apotheken versuchen, durch zusätzliche Konditionenforderungen ihren Kosten- und Ergebnisdruck an die Industrie weiterzugeben. Aber auch 4 von 5 CHC-Unternehmen planen, 2023 weitere Preiserhöhungen durchzuführen.
Was sind aktuell die Herausforderungen der Consumer-Healthcare-Unternehmen und damit in nächster Konsequenz auch für deren Apothekenvertrieb?
Pielenhofer: Der Wettbewerb im Bereich OTC und Freiwahl nimmt seit Jahren kontinuierlich zu. Inzwischen ähnelt er in vielen Bereichen den Anforderungen in der Konsumgüterindustrie. Wettbewerbsvorteile sind immer schwieriger über das Produkt zu erzielen. Zentrale Erfolgsfaktoren sind deshalb optimale Marketing- und Vertriebsarbeit.
Da der Vertrieb und insbesondere der Außendienst die teuersten Vermarktungsinstrumente sind, müssen deren Effizienz und Effektivität im Hinblick auf eine integrierte Bearbeitung der unterschiedlichen Absatzkanäle kontinuierlich auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls angepasst werden.
Müller: Bei mittelständischen Unternehmen stehen in der Regel weniger Gelder für Marketingunterstützung zur Verfügung. Der Vertrieb ist dort oft die „verlängerte Werkbank“ des Marketings. Hier gilt es, die vorhandenen Vertriebsressourcen fokussiert einzusetzen: Konzentration auf die A- und B-Apotheken mit entsprechendem Umsatz- und Ertragspotenzial.
Wie reagieren die Unternehmen auf diese Herausforderungen?
Müller: 2023 planen nochmals fast die Hälfte der befragten Unternehmen weitere deutliche Anpassungen im Vertrieb. Das Key-Account-Management wird weiter ausgebaut – auch eine Konsequenz der zunehmenden Filialisierung im Apothekenmarkt –, die Feldorganisation wird jedoch reduziert. Wir stellen fest, dass die Bedeutung eines leistungsfähigen Innendienstes als Grundlage einer effizienten Marktbearbeitung durch das Key-Account-Management und die Feldorganisation nach wie vor unterschätzt wird.
Ist die stationäre Apotheke als Abverkaufsort noch von großer Bedeutung oder richtet sich der Fokus mehr auf Online-Apotheken?
Pielenhofer: Die stationäre Apotheke wird auf absehbare Zeit weiterhin eine zentrale Säule der Gesundheitsversorgung in Deutschland darstellen. Im konkreten Einzelfall hängt dies jedoch stark vom Bedarf des Apothekenshoppers beziehungsweise dem Sortiment des Healthcare-Unternehmens ab. Aus Verbrauchersicht bleibt die stationäre Apotheke bei akutem Bedarf an Medikamenten oder unmittelbar erforderlichen Beratungsleistungen der Apotheke weiterhin die erste Wahl. Geht es hingegen um Convenience-Medikamente des täglichen Bedarfs oder um eine Dauer-Medikation, zum Beispiel bei Diabetes oder Asthma, gewinnt der Online-Kanal weiterhin an Bedeutung.
Wie stellen sich die Unternehmen mit Blick auf die Zukunft und verstärkten Online-Handel auf?
Müller: Der Online-Handel spielt im Pharmamarkt, wie auch in anderen Branchen, bereits eine erhebliche Rolle. Die zunehmende Affinität zum Online-Kauf über alle Altersgruppen hinweg forciert diese Entwicklung zusätzlich. Für die Industrie geht es darum, diesen Vermarktungskanal im Sinne einer integrierten Omnichannel-Marktbearbeitung in die Vermarktung sinnvoll mit einzubinden. Die zentrale Frage: Was kann dieser Kanal für mich und meine Käufer leisten? Entscheidend ist hier der Einsatz eines leistungsstarken „Kanalwertmodells“.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Vertriebsmitarbeiter?
Müller: Für den Außendienst muss der Aufgabenschwerpunkt zukünftig in der Abverkaufsunterstützung des Apothekers liegen –Stichwort: „Value Selling“. Das ist trotz vieler Lippenbekenntnisse in vielen Außendienstorganisationen noch immer nicht in der Vertriebssteuerung und Incentivierung des Außendienstes verwurzelt. Hineinverkauf und kurzfristige Umsatzmaximierung bestimmen weiterhin die vertriebliche Tagesordnung.
Pielenhofer: Die dauerhafte Abverkaufsunterstützung der Apotheken wird zum zentralen Wettbewerbs- und Differenzierungsfaktor für den Außendienst. Dies setzt voraus: Weg von der undifferenzierten Apothekenbetreuung nach dem Prinzip „Gießkanne“, hin zu individuellen Vermarktungs- und POS-Konzepten in Abhängigkeit von Lage, Größe, Struktur, Positionierung und Sortimentskompetenz der Apotheke sowie im Hinblick auf das Käuferprofil. Der Außendienst-Mitarbeiter muss sich zum Vermarktungsexperten entwickeln.
Welche Veränderungen ergeben sich für den Innendienst?
Pielenhofer: Die Bedeutung des Innendienstes für die Effizienz der Apothekenbearbeitung steigt insbesondere mit und durch die zunehmende Bedeutung des Key-Account-Managements. Unabdingbar für einen leistungsfähigen Vertriebsinnendienst: ein leistungsfähiges Vertriebscontrolling zur Beurteilung der Effektivität und Effizienz der Vertriebsmaßnahmen. In Zukunft werden die Grenzen der Kundenbearbeitung zwischen Außen- und Innendienst verwischen.
Aus Sicht der Apotheken gibt es laut Ihrer Studie Kritik an der Qualität der Beratungskompetenz der Vertriebsmitarbeiter. Was müsste an dieser Kompetenz, die ja unabdingbar mit dem Verkaufserfolg zusammenhängt, optimiert werden?
Müller: Wie erwähnt ist die traditionelle Rolle des Außendienst-Mitarbeiters als „Auftragseinholer“ überholt, dominiert aber noch viele Außendienstorganisationen. Vertriebliche Fähigkeiten in Bezug auf die langfristige Unterstützung des Apothekers bei der Vermarktung müssen neben der fachlich-sachlichen Kompetenz stärker in den Vordergrund treten.
Fachkräftemangel spielt inzwischen in allen Branchen eine Rolle. Wie sieht es beim Apothekenvertrieb aus?
Pielenhofer: Der Fachkräftemangel im Apothekenvertrieb ist eklatant, die Vakanz-Zeiten im Recruiting hoch. Die Fähigkeit, qualifizierte Vertriebsmitarbeiter zu gewinnen, ist eine Schlüsselkompetenz für jedes Pharmaunternehmen. Die Herausforderung ist die nötige Doppelqualifikation, das heißt die pharmazeutischen Kenntnisse und die vertrieblichen Fähigkeiten. Gleichermaßen qualifizierte Mitarbeiter sind kaum zu finden. Pharmaunternehmen sprechen inzwischen gezielt Apothekenpersonal, also PTA und PKA, an, um dann, mit entsprechenden vertrieblichen Ausbildungsmaßnahmen, ihre offenen Stellen zu besetzen.
Mit welchen Rekrutierungsmaßnahmen reagieren die Unternehmen?
Müller: Job-Portale sind für den Pharma-Vertrieb, gerade für Nachwuchskräfte, nicht die erste Wahl. Wichtiger für die Unternehmen ist eine dauerhafte Präsenz auf allen wichtigen Sozialen Plattformen. Hierzu zählen nicht nur Xing oder LinkedIn, sondern auch Facebook, Instagram und Co.
Attraktives Gehalt, Firmenwagen, Boni etc. sind notwendige Hygienefaktoren bei der Personalsuche. Bedeutender sind eine gute Qualifizierung, individuelle Freiheiten bei der Arbeitsgestaltung und mittelfristige Entwicklungsmöglichkeiten – gerade auch außerhalb des Vertriebs. Grundsätzlich gilt: Was man am Markt nicht findet, muss man selber ausbilden.
In der Studie haben Sie Handlungsempfehlungen formuliert. Was sind die wichtigsten Empfehlungen für Sie, Herr Pielenhofer?
Pielenhofer: Der zunehmende Filialisierungsgrad und die rückläufige Bedeutung der stationären Apotheken haben weitere Auswirkungen auf die vertriebliche Betreuung. Das Apotheken-Targeting der Unternehmen ist zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Der individuelle Apothekenwert wird zum Schlüsselfaktor der Vertriebssteuerung. Die Streuverluste beim Einsatz von Werbematerialien in der Apotheke sind exorbitant hoch. Viele Werbematerialien landen im wahrsten Sinne des Wortes in der Tonne. Zur Steuerung der Marketinggelder sollte das Targeting deshalb um qualitative Faktoren ergänzt werden. Wir nennen dies „Apothekenprofiling©“. Dadurch können Marketingkosten bis zu 35 Prozent reduziert werden, bei gleichzeitiger höherer Akzeptanz der Maßnahmen seitens des Apothekers.
Und für Sie, Herr Müller?
Müller: Für die OTC-Industrie muss es das Ziel sein, ihre Preis- und Konditionenstrategie nach dem Prinzip „pay for performance“ leistungsorientiert zu gestalten. Weiterhin muss das Pricing über die verschiedenen Kanäle harmonisiert werden, um nicht Kunden aufgrund der Preisdiskrepanzen zwischen Online und Stationär in den Online-Kanal zu treiben. Bei Produkten, die weniger beratungsintensiv und mehr „fast moving consumer goods“ sind, ist die Abwanderungsgefahr in den Online-Kanal besonders hoch. Bei geplanten Preiserhöhungen sollte zudem weniger „aus dem Bauch heraus“ entschieden, sondern potenzielle Absatzeffekte einer Preisveränderung vorab durch Marktforschung evaluiert werden. Darüber hinaus sollte bedacht werden, dass die Beratungs- und Vertriebskompetenz der Mitarbeiter ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor ist. Marktanteile werden im Vertrieb gewonnen. Deshalb kommen der Führungskräfteentwicklung und Mitarbeiterqualifizierung eine wichtige Rolle zu.
Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft: Wohin entwickelt sich der Apothekenvertrieb? Welche Relevanz hat dieser Vertrieb in fünf Jahren?
Müller: In der Bearbeitung der Großkunden, wie Großhandel, Versandhandel, Kooperationen, wird sich ein Mix aus virtueller und persönlicher Betreuung etablieren beziehungsweise hat sich bereits etabliert. Hier war Corona bereits der entscheidende Treiber dieser Entwicklung. In der Außendienstorganisation spielt die persönliche Beziehung zum Apotheker und dem Apothekenteam für den Erfolg weiterhin eine wichtige Rolle. Hier geht es zukünftig nicht mehr um die Auftragseinholung, sondern um qualifizierte Unterstützung und Beratung des Apothekers im Hinblick auf Sortiment, Platzierung, Preispolitik und Category Management. Auch wird dies wesentlich differenzierter als bisher erfolgen. Die persönliche Betreuung vor Ort wird sich auf Grundlage eines gezielten Targetings wesentlich stärker auf „High-Value-Apotheken“ konzentrieren. Viele Apotheken werden dann durch den Innendienst nur noch indirekt betreut.
Pielenhofer: Da für Schulungen in der Apotheke immer weniger Zeit bleibt beziehungsweise der Apotheker nicht bereit ist, hierfür entsprechend zu investieren, spielt die Bereitstellung digitaler Instrumente für die Schulung des Apothekenteams und die Vermarktung eine entscheidende Rolle.