Frau Stechl,könnten Sie beschreiben, worum es bei Design Thinking geht und was die wesentlichen Unterschiede zu anderen kreativen Entwicklungsprozessen sind? 
Julia Stechl: Design Thinking ist ein strukturierter Innovationsansatz, der ursprünglich aus der Produktentwicklung im Silicon Valley kommt und mittlerweile auch im Gesundheitswesen eingesetzt wird. Der zentrale Unterschied zu klassischen Kreativprozessen: Man beginnt nicht bei der Lösung, sondern beim Menschen. Im Fokus stehen Empathie, Perspektivwechsel und die konsequente Orientierung an den Bedürfnissen der Zielgruppe. Der Prozess ist iterativ aufgebaut – Ideen werden entwickelt, getestet, angepasst und erneut überprüft. Damit entsteht ein Kreislauf, in dem aus einem ersten Konzept Schritt für Schritt eine Lösung wächst, die tatsächlich relevant ist.

Was bedeutet das für den Bereich der Medical Education?
Übertragen auf medizinische Fortbildungen heißt das: Bevor ein Programm entworfen wird, muss das Verständnis der Teilnehmer:innen verstanden werden. Methoden wie die Empathy Map helfen, die Lebensrealität von Ärzt:innen greifbar zu machen. In Kombination mit Persona-Entwicklung lassen sich daraus unterschiedliche Zielgruppen klar unterscheiden – etwa die Oberärztin im Klinikalltag, die schnelle, praxisnahe Updates braucht, versus den niedergelassenen Spezialisten, der vertiefende Diskussionen sucht. Formate werden so konsequent aus Sicht der Empfänger:innen gedacht, nicht aus Sicht derer, die die Inhalte vermitteln.

Welche Vorteile bieten Design-Thinking-Methoden, wenn es um die Entwicklung von Fortbildungsformaten für HCPs geht?
Viele medizinische Fortbildungen sind noch stark sender-orientiert konzipiert und greifen daher an den Bedürfnissen der Zielgruppe vorbei. Inhalte werden aus Expertensicht definiert und anschließend in ein Programm gegossen – mit der Annahme, dass sie schon für alle relevant sein werden. Design Thinking dreht den Blick um: Es geht darum, die Zeit der HCPs zu respektieren und Inhalte zu liefern, die im Alltag wirklich helfen.

Wie funktioniert dieser Perspektivwechsel in der Praxis?
Das gelingt durch eine zielgerichtete Analyse: Feedback-Daten aus vergangenen Fortbildungen werden ausgewertet und zu Personas verdichtet. Jede Persona repräsentiert eine typische Zielgruppe: Zum Beispiel Assistenzärzt:innen (kompakte Basics), medizinische Leiter:innen (Strategien & Praxis) oder Wissenschaftler:innen (Evidenz). In Workshops wird erarbeitet, welche Formate diese Gruppen brauchen und welche Pain Points adressiert werden müssen. Daraus entstehen modulare Programme, die digitale Impulse mit interaktiven Präsentformaten verbinden. 
Der Vorteil besteht darin, dass jede:r sich in einem Teil des Programms wiederfindet, unabhängig von Vorwissen, Arbeitsumfeld oder Lernpräferenz. So profitieren alle: Teilnehmer:innen erleben Relevanz, Veranstalter:innen höhere Quoten, medizinische Leiter:innen Sicherheit in der Didaktik – und Industriepartner:innen können, bei klarer Abgrenzung, wertvolle Einblicke gewinnen.

HCPs bevorzugen Content inzwischen häufig in Formaten, die „snackable“ sind und „on demand“ zur Verfügung stehen. Haben Webinare und Präsenzveranstaltungen dennoch nach wie vor eine Daseinsberechtigung?
Digitale Formate und „Snackable Content“ sind praktisch und flexibel, stoßen jedoch an Grenzen: Austausch und Interaktivität gehen verloren. Entscheidend ist das Lernziel, das im Vordergrund steht. Geht es um Perspektivwechsel, kritische Diskussion oder Verhaltensänderung, spielen Präsenzveranstaltungen ihre Stärken aus.
Ein Praxisbeispiel: In einer modularen Fortbildungsreihe wurden Grundlagen über kurze, digitale Micro-Learnings vermittelt. In einem zweiten Schritt vertieften Präsenz-Workshops diese Inhalte anhand realer Fallbeispiele, die mit Empathy Maps erarbeitet wurden. Das Zusammenspiel von On-Demand-Input und interaktiven Diskussionen führte zu höherem Engagement, besseren Evaluationsergebnissen und einem stärkeren Praxistransfer. Auch hier zeigt sich, dass Hybrid-Ansätze den größten Mehrwert schaffen. Inhalte werden dort vermittelt, wo sie am besten wirken – und alle Stakeholder profitieren.

Für eine effektive Wissensvermittlung sollten Medical-Education-Formate möglichst interaktive, vielleicht sogar – im Sinn von Edutainment – „unterhaltsame“ Elemente enthalten. Welche modernen Möglichkeiten bieten sich diesbezüglich?
Frontalvorträge genügen nicht mehr. „Edutainment“ heißt nicht trivialisieren, sondern Inhalte erlebbar machen – zum Beispiel durch Gamification, Simulationen, Live-Votings oder AR/VR-Erlebnisse. Letztere ermöglichen es, die Welt der Patient:innen unmittelbar nachzuvollziehen – etwa indem Teilnehmende die Sehschwäche eines Glaukom-Patienten erleben. Das schafft tiefes Verständnis und bleibt nachhaltig im Gedächtnis. Allerdings sind AR/VR-Setups derzeit oft noch kostenintensiv.
Auch einfache Methoden wie Video-Interviews, Quiz-Apps oder Rollenspiele können starke Effekte erzeugen. Wichtig dabei bleibt: Erst das gewünschte Outcome und die Zielgruppe definieren – danach das passende Format wählen.

Künstliche Intelligenz durchzieht zunehmend alle Arbeitsbereiche. Wo sehen Sie sinnvolle Einsatzmöglichkeiten für KI-Tools im Bereich der Medical Education?
Schon heute wird KI genutzt, um Feedback-Daten auszuwerten, Lernverhalten zu analysieren oder Inhalte zu kuratieren. So können Programme und Agenden zielgerichteter gestaltet werden – basierend auf konkreten Bedarfen, klar erkannten Personas und echten Pain Points der Teilnehmer:innen. Zudem könnte die KI als „virtueller Teilnehmer“ in Workshops auftreten und die Rolle einer Persona übernehmen – etwa die einer Klinikärztin mit starkem Zeitdruck oder eines jungen Assistenzarztes, der flexible Lernformate bevorzugt.
Bei aller Innovation bleibt aber entscheidend: Der Mensch steht im Mittelpunkt. KI ist ein Werkzeug, das uns unterstützt, schneller und präziser zu verstehen – nicht mehr und nicht weniger. Sie kann helfen, neue Wege sichtbar zu machen, ersetzt aber nicht Empathie, Erfahrung und den echten Dialog.

Diese menschlichen Qualitäten waren schon immer wichtig. Wenn sie aber nun durch Methoden wie Design Thinking und neue Technologien unterstützt werden, verändert das dann den Charakter von Medical Education grundsätzlich? 
Die ärztliche Fortbildung steht meiner Überzeugung nach an einem Wendepunkt. Standardisierte Formate nach dem Sender-Prinzip stoßen zunehmend an ihre Grenzen. Der Blick durch die Brille der Teilnehmer:innen eröffnet dagegen neue Chancen: Inhalte werden relevanter, Formate flexibler und Lernprozesse nachhaltiger.
Methoden wie Design Thinking und der Einsatz moderner Technologien wie KI oder AR/VR weisen einen vielversprechenden Weg. Sie ermöglichen Fortbildungen, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern echten Mehrwert stiften – für Ärzt:innen, Veranstalter:innen, medizinische Leiter:innen und Industriepartner:innen gleichermaßen. 
Wenn es gelingt, Fortbildungen konsequent aus der Perspektive der Zielgruppe zu denken, kann Medical Education den nächsten Schritt gehen: hin zu Programmen, die die Realität der Teilnehmer:innen widerspiegeln und ihre Zeit sinnvoll nutzen.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Stechl.