Dabei steht das Kongressmanagement von Pharmafirmen vor einer Reihe von Herausforderungen, wenn es um die Planung und Vorbereitung eines Kongressauftritts im jeweiligen Umfeld geht. Hierbei geht es nicht nur um regulatorische Auflagen, die sie im Rahmen der Compliance und Transparenz sicherstellen müssen. Es bestehen auch inhaltliche, logistische und kommunikative Herausforderungen für das Marketing, wie die ansprechende Gestaltung des Ausstellungsstands, Banner, Standauslagen, Informationsbroschüren, Give-aways, Catering, Plakate, digitale Tools usw., die im Standkonzept zu inszenieren sind. Im Mittelpunkt der Marketingaktivitäten muss eine möglichst effektive Zielgruppenansprache stehen, um Aufmerksamkeit zu generieren und den Ärzten den Content mit den anvisierten Botschaften zu vermitteln.

Branding durch emotionale Aufladung und „mental anchoring“

Für das erfolgreiche Branding der Pharmaunternehmen bedeutet das Generieren von Aufmerksamkeit nicht nur, irgendwie bunt und originell aufzufallen oder überladen Content zu vermitteln. Ziel der Marketingstrategie muss es vielmehr sein, eine langfristige mentale Verankerung der Marke bzw. des Corporate Brand in den Köpfen der Ärzte zu erzeugen und nicht nur kurzfristig Aufmerksamkeit zu erregen.

Theoretische Grundlagen hierzu liefern zwei Denkschulen. Zum einen, die Verhaltensökonomie und allen voran die des kürzlich verstorbenen Psychologen und Nobelpreisträgers Daniel Kahneman erforschten kognitive Prozesse, die menschlichen Entscheidungen zugrunde liegen. Zum anderen die forschungsbasierte Marketingtheorie von Byron Sharp und Jenni Romaniuk vom Ehrenberg-Bass Institute for Marketing Science, die traditionelle Marketingpraktiken teilweise in Frage stellen.

Daniel Kahneman betont in seinem richtungsweisenden Werk die Rolle der beiden Entscheidungssysteme im Gehirn: Die Eindrücke des intuitiv-emotionalen, kontextgeleiteten System 1 schalten gerade im informationsgefluteten und eng getakteten Arzt-Alltag die Kommunikationshürden des schwerfälligen rationalisierenden Systems 2 weitgehend aus, und der Autopilot übernimmt die Entscheidung. Kahneman ging davon aus, dass das Denksystem 1 für über 90 % der menschlichen Entscheidungsprozesse verantwortlich ist. Diese Theorie ist auch eine Grundlage des K&A Psychodrama®, um den Schlüssel für Verhaltensänderungen der Ärzte im Kontext der Entscheidungssituationen zu verstehen.

Abb. 1: Einprägsame Codes und Branding als Grundlage für mentale Verankerung und schnelles Handeln. Quelle: K&A BrandResearch

 

Jenni Romaniuk und Byron Sharp vom Ehrenberg-Bass Institute heben die Bedeutung der mentalen Verfügbarkeit von Marken hervor. Demgemäß müssen auch Pharma-Marken in den Köpfen der Ärzte markant und abrufbar sein, um in verschiedenen Verordnungskontexten in Betracht gezogen zu werden.

Ein Kongressauftritt sollte deshalb darauf abzielen, mentale Verfügbarkeit zu erhöhen und wiedererkennbare Markenelemente (bei Marken oder Unternehmen) zu stärken. Bei Kongress- oder Messe-Auftritten ist es dabei entscheidend, dass die Wiedererkennung und Erinnerung durch einfache Botschaften und konsistente Verwendung von Markenmerkmalen (Farbcodes, Logos, Slogans, usw.) gestärkt wird. Denn am Ende sollte auch ein Event nicht nur Content vermitteln, sondern vor allem auch einen entscheidenden Beitrag dafür geliefert haben, dass ein Unternehmen, ein Markenpräparat, eine Therapie über visuelle, wiedererkennbare Merkmale distinkt und jederzeit abrufbar verankert wurden.

Im Bereich rezeptpflichtiger Arzneimittel bestehen grundlegende regulatorische Barrieren, was Werbung für Arzneimittel betrifft. Ziel dieser Gesetze ist es, die öffentliche Gesundheit zu schützen und eine faire Information für verordnende Ärzte und Patienten sicherzustellen (vgl. HWG §10: Werbeverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel, HWG §3: Irreführungsverbot, HWG §4: spezielle Anforderungen an Werbung). Hinzu kommen gesetzliche Regelungen im Arzneimittelgesetz (AMG), Medizinproduktegesetz (MPG) und im Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG). Auch wenn eine direkte Ansprache gegenüber Fachkreisen möglich ist, unterstreichen die gesetzlichen Regelungen, wie schwierig es ist, Kampagnen im verschreibungspflichtigen Umfeld zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund kommt Kongressen als Plattform eine zentrale Bedeutung bei der effizienten Ansprache der Fachärzte zu.

Plattform für mehr „mental availability“

Fachkongresse und Tagungen sind für Ärzte und die Pharma-Aussteller effektive Touchpoints. Einerseits kommen die Ärzte mit neuesten Entwicklungen und Innovationen in Kontakt. Anderseits eröffnen sich für die Aussteller eine Vielzahl an Möglichkeiten, das Unternehmen und deren Services werbewirksam der Ärzteschaft zu präsentieren. Kongresse leisten damit einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum „mental anchoring“.

Welche Bedeutung Kongressen und Tagungen als Plattform für Marketingaktivitäten zukommt, liefert ein Blick auf aktuelle Zahlen: Im Jahr 2023 haben in Deutschland mindestens 324 Kongresse, Jahrestagungen und Symposien (z.B. Wund-Symposium, Neuroradiologie-Symposium) stattgefunden (ohne Online-Workshops, Fortbildungskurse, Webinare, E-Learnings oder IHK-Zertifikatslehrgänge). Im laufenden Jahr realisierten die Veranstalter bis Ende Mai 2024 bereits mindestens 117 fachmedizinische Einzelveranstaltungen, beginnend mit dem „16. Nürnberger Herz-Tage Kongress“ am 12.1.2024 bis hin zu der „Jahrestagung der Sächsisch-Thüringischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und Kinderchirurgie“ am 31.05.2024. 

Im Allgemeinen decken die Kongresse nahezu alle Fachdisziplinen ab, einschließlich Zahnmedizin, Psychotherapie und seltene Erkrankungen (rare diseases). Hierbei gibt es unterschiedliche Schwerpunkte im Kongressangebot. Während beispielsweise der Berufsverband der Pathologen und die wissenschaftliche Gesellschaft (DGP) im Fachbereich Pathologie jährlich nur einen Kongress veranstalten, so sind es in anderen Fachdisziplinen weit mehr Veranstaltungen. Im Bereich Gastroenterologie haben im Jahr 2023 ca. 140 Veranstaltungen (eingerechnet die Messen und Kurse) verteilt über die gesamte Bundesrepublik stattgefunden. Auch die Anzahl der Aussteller variiert sehr stark. Auf vielen Kongressen ist zumeist das who is who der internationalen Pharmabranche vertreten, aber oft sind es auch nur wenige Aussteller. Beispielsweise sind in diesem und letzten Jahr nur eine Handvoll Pharmafirmen auf den HIV-Kongressen DÖAK (Deutsch-Österreichischer AIDS-Kongress), der dagnä (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter e.V.) oder den MAIT (Münchner AIDS und Infektologietage) präsent gewesen und möchten die Aufmerksamkeit der Fachärzte gewinnen. 

Wow-Effekt und „distinctiveness“

Kongresse sind für Pharmafirmen ein zunehmend wichtigerer Touchpoint in der analogen Welt, um ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse effektiv zu präsentieren und sich in der Zielgruppe mental zu verankern. Content allein erzielt dabei aber noch lange keinen „Wow-Effekt“.

Ob und wie das geschieht, lässt sich als Momentaufnahme oder als Tracking im Zeitverlauf über mehrere Veranstaltungen hinweg relativ exakt messen. Die Ergebnisse helfen den Herstellern dabei, zukünftige Kongresse zielgenauer zu planen und die Ansprache effektiver ausrichten zu können. K&A BrandResearch AG ist u.a. auf quantitatives Kongress-Tracking spezialisiert und kann auf Basis von Analysen über die mentale Wirksamkeit und des Staunens handlungsweisende Empfehlungen für mehr Wow auf Events ableiten.

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Abb. 2: Anonymisierter Wow-Effekt eines Kongress-Auftritts eines Pharma-Herstellers. Quelle: K&A BrandResearch

 

Ein Wow-Effekt nach Kotler ist dann gegeben, je stärker eine positive Überraschung oder „Stolperstein-Effekt“ gemessen wird (Amazement), je stärker Erinnerungswerte (Anchoring) vorliegen und je höher eine Bereitschaft für Weiterempfehlung und Sharing besteht (Activation). Um einen „Wow-Effect“ eines Kongress-Auftritts zu erzeugen, bedarf es einer Verknüpfung des „content“ mit „awareness“. Mit anderen Worten: Gemerkt werden Botschaften, die die Bedürfnisrelevanz der Ärzte in ihrem alltäglichen Arbeitskontext von Praxis, Klinik oder MVZ adressieren. Damit Aufmerksamkeit geweckt wird und eine langfristige mentale Verankerung gelingt, müssen Unternehmenscodes, Services und Botschaften positiv über dem Kongress-Auftritt überraschen. 

Ein zentraler Touchpoint für Ärzte ist oft der Kongress-Stand eines Ausstellers. Wenn der Stand einladend und auffällig gestaltet ist, kontextbezogen die Ärzte in das Standkonzept einbindet und dabei über einfach-eindeutiges Codifying die zentralen Assets und Botschaften einprägsam inszeniert, so ist eine mentale Verankerung leichter erreichbar als über die meisten Flyer oder Werbeprospekte, die im Arztalltag nur oberflächlich gemerkt werden.

Auch Symposien oder Diskussionsrunden können über das Informationsinteresse der Ärzte hinaus Wow-Effekte auslösen. Das gelingt Hilfsmitteln oder Thematisierungen besonders gut, die den stress- und informationsüberlasteten Ärzten merkwürdig Unterstützung anbieten, um deren Arbeitsalltag zu erleichtern (z.B. AI-Tools in der interventionellen Radiologie). Andere Beispiele für kleine Wow-Momente können simpler sein, wie eine geschickt im Zubringer-shuttle positionierte Botschaft oder Visualisierung, die den Nerv treffen, indem relevante Patientenkontexte kreativ aufgegriffen werden. 

Zusammenfassend ...

Kongresse bieten eine optimale Plattform für die Hersteller, mit den Ärzten in Kontakt zu treten. Über kontextualisierte Ansprache und strategisch durchdachte Auftritte können Unternehmen und Marken leichter mental verankert und dadurch positiv emotionalisiert werden. Eine exakte Analyse des Wow-Effekts ist über ein verhaltenswissenschaftlich ausgerichtete Benchmark-Logik möglich und eine Optimierung von Kongress-Auftritten aufgrund der daraus abzuleitenden Insights zu späteren Zeitpunkten realisierbar. Die Bedeutung der Kombination von Hören, Sehen und Erleben von Pharma-Unternehmen in einer stetig ent-analogisierten Welt wird dabei eher wachsen.

 

Dr. Uwe Lebok gilt im deutschsprachigen Raum als Marketing-Experte für die Positionierung von Marken und verstärkt als Impulsgeber Marken in „Sackgassen“. Er ist Vorstand (CMO) beim Marktforschungs- und Markenberatungsinstitut K&A BrandResearch und unterstützt vor allem mittelständische Unternehmen mittels researchbasierter Markenstrategien.

 

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Dr. Thomas Weid ist Senior BrandConsultant bei K&A BrandResearch. Der Gesundheitsökonom ist seit 1997 in der Healthcare-/Pharmamarktforschung und Beratung tätig, zwei Jahre davon als Expatriate in Mexiko Stadt. Er verfügt zudem über Berufserfahrung in der Healthcare-Industrie in den Bereichen Wundmanagement und medizinische Großgeräte.