Herr Dr. Dickten, seit der Einführung von ChatGPT bekommt generative KI riesigen Aufwind. Doch wie sollten Pharmaunternehmen mit so neuen und vor allem disruptiven Technologien umgehen? Ist es nicht wichtig, zunächst einmal zu überlegen, ob man sie auch wirklich braucht?
Dr. Henning Dickten: Ich denke, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Oft sehen wir, dass bei neuen Technologien zunächst eine Begeisterung entsteht - man denkt, „Oh, das ist ja spannend und innovativ!“ Schnell folgt dann der Druck, mit den anderen mitzuhalten. Wenn man einen Hammer in der Hand hält, sieht alles wie ein Nagel aus - da kann es passieren, dass Technologien übereilt eingeführt werden, ohne sie tatsächlich zu benötigen. Hier ist es wichtig, über Ziele und nicht im ersten Schritt über Maßnahmen und Technologien zu sprechen.

Welche Formate nutzen Sie in Ihrem Unternehmen, um Innovationen und neue Technologien zu bewerten?
Wir haben im Wesentlichen drei Formate entwickelt, um neue Technologien zu bewerten. Erstens haben wir einen sogenannten „Tech Radar“. Hier sammeln wir alle neuen Technologien, die aufkommen, und bewerten sie nach Potenzial, möglichen Anwendungsgebieten, Vor- und Nachteilen. Dabei geht es darum, eine erste Verortung vorzunehmen. Wir fragen uns, wie machbar die Technologie ist, wie groß das Investment, und so weiter. Zweitens gibt es bei uns regelmäßige Stand-Ups, in denen sich Kolleginnen und Kollegen zu bestimmten Themen austauschen, ihre Erfahrungen teilen und so das Wissen in der Organisation verbreiten. Und drittens testen wir neue Technologien in Leuchtturmprojekten, um Erfahrungen zu sammeln, bevor sie großflächig eingeführt werden. Zum Teil auch in Kooperation mit Universitäten, um direkt am Puls der Wissenschaft zu sein.

Angenommen, eine Pharmafirma wendet sich an Sie, weil sie überlegt, generative KI im Marketing einzusetzen. Wie gehen Sie in einem solchen Fall vor?
Im Idealfall besprechen wir zunächst gemeinsam, was die Ziele des Unternehmens sind und welche Erwartungen es hat. Es geht darum, klar zu definieren, was man erreichen möchte. Wir gestalten zusammen Zukunftsszenarien. Erst dann bewerten wir, ob die vorgeschlagene Technologie geeignet ist, diese Ziele zu erreichen. Oft starten wir mit einem Proof of Concept, einer Art Prototypenbau, um zu prüfen, ob die Technologie tatsächlich so funktioniert, wie man sich das vorstellt. Danach geht es in die Testphase mit einer ausgewählten Nutzergruppe, um die Ergebnisse zu validieren. Wenn alles erfolgreich verläuft, erfolgt die Skalierung und der Rollout.

Das macht Sinn, insbesondere bei einer Technologie wie generativer KI, die gerade viel Hype erfährt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Bezug auf diesen Hype und die tatsächliche Implementierung in Pharmafirmen?
Es ist eine Mischung aus Aufbruchsstimmung und Angst. Auf der einen Seite sind alle begeistert von den Möglichkeiten, die generative KI bietet, auf der anderen Seite gibt es die Sorge, die Kontrolle zu verlieren oder sogar die eigene Rolle im Unternehmen. Besonders bei Technologien, die so viel Aufmerksamkeit erhalten, ist es wichtig, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, was man eigentlich erreichen möchte. Es gibt viel Hype, aber die tatsächliche Nutzung und der reale Mehrwert sind oft noch nicht so weit entwickelt, wie man es sich vielleicht vorstellt. Hier hilft es, ganzheitlicher und opportunistischer zu denken bis hin zu die eigene Rolle neu zu denken.

Es scheint, dass viele Firmen noch in einer frühen Phase der Implementierung sind. Wie geht man am besten vor, wenn man nach der Klärung der grundlegenden Fragen eine neue Technologie im Bereich Marketing einführen möchte? 

Wichtig ist, in Feedback-Loops zu denken: Spätestens, wenn der Proof of Concept durchgeführt wurde, und die Technologie wirklich hält, was sie verspricht, geht es in die Lernphase. In dieser Phase wird mit ausgewählten Gruppen getestet, wie gut die Technologie angenommen wird. Die Erkenntnisse daraus sollten für Produktverbesserungen genutzt werden. Dabei sollte man auch von Anfang an die Skalierung und Operationalisierung im Blick haben, insbesondere die notwendigen Infrastrukturen und Prozesse für einen späteren Rollout mitdenken. Schließlich geht es darum, eine geeignete Governance-Struktur zu etablieren, um die Technologie kontinuierlich zu überwachen und mittels Feedbacks zu optimieren und somit einen hoch qualitativen Betrieb mit hoher Akzeptanz gewährleisten zu können. 

Eine letzte Frage: Wie geht man am besten mit der Herausforderung um, dass Maschinen zunehmend Maschinen trainieren und die Qualität darunter leiden könnte?
Das ist ein sehr relevantes Thema. Wenn Maschinen Inhalte generieren, die wiederum von anderen Maschinen genutzt werden, kann das zu einer Verwässerung der Qualität führen - ähnlich wie bei der Google-Bubble, wo man immer mehr in einer Art Filterblase gefangen ist. Es ist wichtig, Mechanismen zu etablieren, um die Qualität kontinuierlich zu überwachen und sicherzustellen, dass man nicht in diese Falle tappt. Hier hilft es, möglichst heterogene, durch Menschen generierte beziehungsweise validierte Inhalte für das Training bereitzustellen.

Herr Dickten, vielen Dank für das Gespräch.