Während Kongresse Marketern eine Möglichkeit zur Kundeninteraktion und Imagestärkung böten, schätzten Ärztinnen und Ärzte diese Veranstaltungen als wertvolle Quelle für Wissen, Fortbildung und Networking. Gleichzeitig müssten beide Seiten abwägen, wann sich Präsenz bzw. Besuch lohne, schreibt Kristina Lutilsky, Redaktionsleiterin von „coliquio Insights“. Der Wandel von Kongressen sei spürbar im Gange, zitiert sie Kerstin Dehn, VP Operations & Strategy DACH beim Ärztenetzwerk coliquio: „Während es früher oft nur um das Sammeln von Opt-Ins und die klassische Produktkommunikation ging, geht der Trend hin zu einem noch ehrlicheren Arztverständnis und intensiveren Austausch. Unternehmen fragen sich immer häufiger, welche Pain Points ihre Fachgruppen haben – auch abseits des Produkts – und wie sie unterstützen können. Und damit ist die Branche genau auf dem richtigen Weg!“, stellt Dehn fest.
Während Präsenzveranstaltungen persönliche Interaktionen und Networking sowie den Aufbau von Vertrauen erleichtern, erzielen digitale Angebote eine größere Reichweite. Zudem könne eine virtuelle Teilnahme schneller und einfacher in den Praxis- oder Klinikalltag integriert werden, sagt Thomas Wiggermann, Geschäftsführer des Unternehmens Healthcare Convention. „Eine effektive Verzahnung von Präsenz- und digitalen Angeboten kann durch die Nutzung des richtigen Tools wie auch einer professionellen Live-Moderation erfolgreich durchgeführt werden, um beide Welten miteinander zu verknüpfen und den Austausch zu forcieren“, so Wiggermann.
■ Der Fokus liegt auf dem Präsenzauftritt
Auch wenn mehr und mehr Fachgesellschaften wissenschaftliche Sessions und Industriesymposien als Live-Streaming und Webcasts verfügbar machten, nähmen nur die wenigsten rein digital teil, stellt Kai Oehlschlaeger, im Management Board von expopartner für Client Strategy and Business Development verantwortlich, fest. Digitale Plattformen erhöhten zwar als zusätzliche Touchpoints die Sichtbarkeit, der Fokus der Unternehmen liege jedoch weiterhin auf einem starken Präsenzauftritt. „Das große Potenzial liegt aber vor allem in einer ganzheitlich gedachten Omnichannel-Kommunikation, die den Kongressauftritt mit einem Spannungsbogen über die verschiedenen Kanäle anteasert und den Kontakt nach Kongressende durch ergänzende relevante Inhalte nicht abreißen lässt“, so Oehlschlaeger.
Hybride Formate komplett eingestellt hat der Fortbildungsveranstalter Think Wired!, wie Geschäftsführer Markus Liebold berichtet. Ein Grund dafür sei, dass für die Sponsoren Online-Teilnehmer nicht den Wert eines Präsenzteilnehmers hätten – somit würden die Sponsorengelder gekürzt. Auswertungen zeigten zudem, dass sich viele Online-Teilnehmer nur kurz einloggten, um die Fortbildungspunkte „abzugreifen“. Deshalb, aber auch weil Veranstaltungen vom Netzwerken und dem persönlichen Austausch lebten, wolle er wieder zurück zum Ablauf vor der Pandemie. „Wir sehen uns in der Pflicht, für unsere Sponsoren das bestmögliche Konzept zu schaffen, und das ist aus unserer Sicht der persönliche Austausch vor Ort“, so Liebold.
Präsenzteilnahmen seien im Vergleich zu vor der Pandemie häufig stark gesunken, was aus Liebolds Sicht auch daran liegt, dass die Industrie den Markt mit kostenlosen Online-Veranstaltungen überschwemme. Und dann wundere sich die Industrie, wenn bei den Präsenzveranstaltungen keine Teilnehmer vor Ort seien. „Da beißt sich die Katze in den Schwanz und die Industrie sägt auf eine gewisse Art und Weise selbst den Ast ab, auf dem sie sitzt.“ Und er frage sich, wieso 150 bis 200 Online-Teilnehmer auf einem seiner Kongresse für die Pharmaindustrie einen geringen oder gar keinen Wert darstellen, bei eigenen Veranstaltungen aber 30 bis 50 Teilnehmer als großer kommunikativer Erfolg gewertet würden.
Für Markus Liebold ein weiterer Grund, ganz auf Präsenz zu setzen: Eine virtuelle Veranstaltung könne weder den persönlichen Austausch vor Ort noch die aktive Teilnahme an Diskussionsrunden und Falldiskussionen für die Einholung eines Meinungsbildes ersetzen.
■ Produkte erlebbar machen
Um im Rahmen von Präsenzveranstaltungen die Aufmerksamkeit von HCPs zu wecken und dann in einen Austausch treten zu können, kann es nicht schaden, mehr als „nur“ hochwertige medizinisch-wissenschaftliche Inhalte zu bieten – im Sinn einer emotionalen oder „unterhaltsamen“ Ansprache. Unterscheiden müsse man zwischen den offiziellen Agendapunkten seitens der Kongresse, die sich oftmals durch Zertifizierungen der Landesärztekammern an feste Richtlinien halten müssten. Rahmenprogramm und Side Events, aber auch Kongressstände seien differenziert zu betrachten, so Thomas Wiggermann. „Eine Mischung aus wissenschaftlichen Informationen und emotionaler Verknüpfung hilft dabei, Inhalte ansprechend zu präsentieren und das Produkt erlebbar zu machen. Das weckt das Interesse der Teilnehmer:innen.“
Neben der Information zu Produkten und Innovationen sei ein Kongressstand vor allem ein Ort zum Networking und auch einfach eine Gelegenheit zum Verweilen in der Pause. „In allen Fällen wird das Unternehmen mit Überschreiten der Standkante temporärer Gast- und Raumgeber. Wohl in keinem anderen Kommunikations-‚Kanal‘ begegnen sich Mensch und Marke so intensiv und unmittelbar wie hier“, stellt Kai Oehlschlaeger fest. Die Mischung aus Architektur und Design, Materialität, Botschaften und direkter menschlicher Begegnung habe das Potenzial, einen „tiefenwirksamen“ Eindruck der Marke zu hinterlassen. „Die Inszenierung im Raum bietet die Chance, wissenschaftliche Inhalte anschaulich darzustellen und mittels Storytelling oder Gamification kurzweilig und eingängig erlebbar zu machen.“ Die Herausforderung bestehe dabei im richtigen Verhältnis von Ansprache auf fachlicher Augenhöhe und niedrigschwelligem Instinkt. Die Inszenierung sollte Aufmerksamkeit und Neugier erzeugen, müsse aber auch der Ernsthaftigkeit des Themas entsprechen. Oehlschlaeger: „Das erfordert neben Kreativität vor allem Erfahrung und Zielgruppenkenntnis.“
■ Emotionen schaffen Verbindungen und Vertrauen
Ein Beispiel für einen Kongressauftritt, der Aufmerksamkeit und Neugier erzeugt, ist das „Imaginarium“, das IPG Health für den Auftritt von Novartis auf dem wichtigsten neurologischen Kongress in Deutschland geschaffen hat. Im Zentrum steht der „Dome“ – eine riesige Kuppel als virtuelles Fenster in eine andere Welt. Wer zur Decke blickt, sieht den Himmel, steht in einem Wald oder blickt in die Sterne – ein Ruhepol im Kongresstrubel. Statt auf kleinteilige Flächen für einzelne Produkte setzt das Konzept auf ein variables Lichtkonzept, das den Stand abwechselnd einem Produkt überlässt. Der Anspruch von Novartis in der Neurologie heißt „Reimagining Neuroscience“ – mit dem Imaginarium werde dieser Anspruch lebendig.
„Auf allen Fachkongressen oder Veranstaltungen steht natürlich der wissenschaftliche Aspekt im Vordergrund, aber über Emotionen schaffen wir Erlebbarkeit“, sagt Sandra Hellweger, die als Account Director, VP – Congress & Events das umfassende „Experiential & Events“-Angebot von IPG Health in Deutschland weiter ausbaut. Diese Erlebbarkeit erzeuge ein inspirierendes und motivierendes Umfeld, in dem Informationen besser behalten und nachhaltiger verarbeitet würden. Hellweger: „Über Emotionen entstehen neue Verbindungen und Vertrauen.“
Sanofi und Edelman machten die emotionale Belastung von CRSwNP-Betroffenen für HNO-Ärzte erlebbar. Quelle: Edelman
Ein anderes Beispiel für einen Kongressauftritt mit emotionaler Note ist der Auftritt von Sanofi mit dem Produkt „Dupixent“ im Bereich HNO: Die Agentur Edelman hatte zur Indikation Chronische Rhinusinusitis mit Nasenpolypen (CRSwNP) zunächst die Patientenkampagne „Duft des Lebens“ geschaffen. Die zentrale Frage: Wie kann Bewusstsein für eine Krankheit geschaffen werden, durch die Millionen Menschen ihren Geruchssinn verlieren? Mit der Kampagne zeigte Edelman, was CRSwNP-Betroffene wirklich verloren haben: Nicht nur ihren Geruchssinn, sondern wertvolle Erinnerungen – und einen Teil von sich selbst. Um das erlebbar zu machen, entwickelte man mit einer Parfümeurin den „Duft des Lebens“: Die Geruchserinnerungen von drei Patienten wurden in Düfte verwandelt und Menschen so genau mit dem Organ angesprochen, das von der Krankheit betroffen ist: der Nase.
Dieser emotionale Faktor für CRSwNP-Betroffene sollte aber auch HNO-Ärzten verdeutlicht werden. „Mit einem Live-Duft-Experiment auf dem DGHNO-Fachkongress sprachen wir medizinisches Fachpersonal auf der unmittelbarsten, emotionalsten Ebene an. Das Ergebnis: Erstaunen, Empathie und Erkenntnis“, berichtet Nils Giese, Managing Director Healthcare bei Edelman. Gleichzeitig rücke der „Duft des Lebens“ den USP der neuen Therapieoption für die HCPs in den Fokus, ohne dass man ihn explizit benennen müsste: Das Wiedergewinnen des Geruchssinns und damit von Lebensqualität.
„Ein ganz entscheidender Faktor, Menschen mit einer chronischen Erkrankung wie CRSwNP ihre Lebensqualität zurückzugeben und die richtige Therapie zu finden, ist eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation“, betont Giese. Indem die emotionale Belastung der Betroffenen auf dem Fachkongress erlebbar wurde, bekamen die Ärzte einen zusätzlichen Blickwinkel auf die Erkrankung und die mögliche Unterstützung ihrer Patienten. Nils Giese: „So konnten wir sie emotional berühren und rational nachdenken lassen.“