Im Vergleich zu anderen Indikationen treffe man bei den Seltenen Erkrankungen häufig Menschen, die sich extrem gut mit ihrer Erkrankung auskennen, aktiv damit umgehen und ihre Therapie im Rahmen von Shared Decision Making mitgestalten wollen, sagt Eric Seitz von der Agentur PARTNERSEITZ. Was auch daran liege, dass sie es oft müssten und die Aussage „Der mündige Patient lebt länger“ auch besonders im Rare-Umfeld zutreffe. „Betroffene sind durchschnittlich sechs Jahre lang auf der Suche nach der Ursache ihrer Beschwerden. Viele erhalten ihre Diagnose aufgrund ihrer Eigeninitiative, ihrer Recherche und ihrer Hartnäckigkeit. Diese individuellen Herausforderungen sowie die gemachten Erfahrungen spiegeln sich auch im Informationsbedarf“, erklärt Seitz.

Seiner Erfahrung nach sei die „Währung“ in der SE-Kommunikation Glaubwürdigkeit und Authentizität. Betroffene vertrauten Medizinern, wenn es um Versorgungsaspekte, und anderen Patienten, wenn es um den Umgang mit der Erkrankung geht. „Nur jemand, der das auch hat, kann mich wirklich verstehen“, sei ein typischer Satz, weshalb man diese Akteure nach Seitz‘ Überzeugung einbinden und zu Wort kommen lassen sollte. Ebenso mache es Sinn, die Sprach-Präferenzen der Communities zu berücksichtigen – neben einer einfachen patientenverständlichen Sprache betreffe das auch Wording und Tonality. „Beispielsweise ‚leiden‘ Betroffene nicht an ihrer Erkrankung, sondern ‚leben‘ mit dieser. Oder das Wort ‚Angehörige‘ wird meistens als nicht passend empfunden. Hier verwenden wir ‚Mit-Betroffene‘, ‚Wegbegleiter‘ oder ‚Herzensmenschen‘“, so Seitz. Was man seiner Meinung nach generell in der Kommunikation berücksichtigen solle: „Betroffene wollen keine Stock-Fotos, keine dramatische Klaviermusik in Videos und vor allem kein Mitleid!“ 

„Experten“ des eigenen Krankheitsbildes

Patienten mit Seltenen Erkrankungen seien meist chronisch betroffen und hätten dadurch einen intensiveren Leidensdruck als Patienten mit akuten Erkrankungen, erklärt Yvonne Preller von Havas Life Berlin. Je nachdem, wie lange die Diagnose bereits bestehe, hätten sie zudem oft ein fundiertes Wissen über ihre Erkrankung und deren Therapie entwickelt und seien nahezu „Experten“ ihres eigenen Krankheitsbildes. Der jahrelange Leidensdruck, häufig verstärkt durch verzögerte Diagnosen, betreffe aber nicht nur die Patienten selbst, sondern auch ihr Umfeld – insbesondere Freunde und Angehörige. Diese würden deshalb in der Kommunikation ebenfalls als Zielgruppe adressiert und erhielten maßgeschneiderte Informationen. „Die psychischen Belastungen für beide Gruppen sind deutlich intensiver, sodass Themen rund um Unterstützung und Hilfestellung, die auch unabhängig von den Krankheitssymptomen sind, einen zentralen Platz in der Kommunikation einnehmen“, so Preller. „Eine seltene Erkrankung zu haben, bedeutet nicht nur weniger Fachärzte, die sich auskennen, sondern auch weniger Menschen im Alltag, die Verständnis für spezifische Probleme haben könnten.“ Um diesen besonderen Herausforderungen gerecht zu werden, bedürfe es daher neben barrierefreien Konzepten auch Kommunikationsmaterialien, die auf die Lebensrealitäten der Betroffenen eingehen, zum Beispiel durch digitale Tools, Apps mit Alltagshilfen oder Broschüren, die auf den Alltag zugeschnitten sind.

Da Seltene Erkrankungen häufig erst nach längerer Zeit diagnostiziert werden, komme es oft zu verzögerten Therapieansätzen. Dies erschwert einen frühzeitigen Therapiebeginn, der für eine günstigere Beeinflussung des Krankheitsverlaufs und eine effektivere Symptomreduktion entscheidend wäre. „Daher ist es für Disease-Awareness-Kampagnen wichtig, sich in der Kommunikation auf erste, frühe Symptome zu konzentrieren, um Patienten in möglichst frühen Stadien der Erkrankung zu adressieren.“

Besondere Herausforderungen in der Kommunikation

In vielen Fällen sei dann eine lebenslange, kontinuierliche Betreuung erforderlich, was die regelmäßige und aktuelle Informationsvermittlung – etwa zu den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen hinsichtlich Therapien und Symptomlinderung – von großer Bedeutung mache, so Preller. „Eine besondere Herausforderung stellt die Tatsache dar, dass Patienten mit Seltenen Erkrankungen häufig den Glauben an eine Verbesserung ihres Zustands verloren haben und daher gegenüber neuen Therapieoptionen eine gewisse Resignation oder Widerstand zeigen.“ Deshalb seien Kommunikationskonzepte mit aktivierendem Charakter von großer Relevanz. Zudem spiele bei solchen Erkrankungen in der Arzt-Patienten-Beziehung das Vertrauen eine besonders zentrale Rolle. Aber ebenso sei es entscheidend für das Pharmaunternehmen, dass der Patient dem Unternehmen und dessen Medikamenten mehr Vertrauen entgegenbringt, als es bei Patienten der Fall ist, die nur einmalig oder über einen kurzen Zeitraum behandelt werden, betont Yvonne Preller.

Auch Dr. Natascha Terp von der Agentur 2strom stellt fest, dass sich die Bedürfnisse von Patienten mit einer Seltenen Erkrankung hinsichtlich Information und Kommunikation sich in vielerlei Hinsicht von denen anderer Patienten unterscheiden. Es beginnt damit, dass es durchschnittlich etwa 5 bis 7 Jahre dauere, bis eine finale Diagnose für eine Seltene Erkrankung gestellt wird. In dieser Zeit sollte der Patient deshalb ihrer Meinung nach besonders intensiv betreut werden. Doch gerade durch die Vielzahl der Tests, die der Patient durchlaufen muss – und das meist bei verschiedenen Fachärzten, komme besonders in dieser Phase die Kommunikation oft zu kurz. Und auch nach der Diagnose stünden viele Patienten alleine da, da nur ein Bruchteil der über 7.000 Seltenen Erkrankungen über zugelassene Therapien oder Medikamente verfügt, wodurch der Patient auch nur beschränkten Zugang zu Informationen besitzt. „Auf der anderen Seite leiden Patienten mit Seltenen Erkrankungen oft unter sozialer Isolation und unter besonderen emotionalen Belastungen. Eine schwierige Situation, um diese Patienten über öffentliche Medienkanäle zu erreichen und ihnen die richtige Unterstützung zukommen zu lassen“, so Terp.

Die Besonderheiten für die Kommunikation resultierten aus der speziellen Natur Seltener Erkrankungen, aus dem multidisziplinären Ansatz bei der Versorgung, der Schwierigkeit der Informationsbeschaffung, dem Mangel an Information sowie auch der Familienbeteiligung, die bei diesen Erkrankungen oft besonders hoch sei. „Bei keiner anderen Erkrankung ist der Bedarf für individuelle Kommunikation so hoch und stellt Ärzte, Versorger und die Industrie gleichermaßen vor Herausforderungen“, betont Terp.

Einen weiteren Aspekt bringt Dr. Christian Bruer (21up) ins Spiel: Weil Orphan Diseases eben selten seien, sei bei der Ansprache von Patientinnen und Patienten mit Orphan Diseases und oft auch deren Umfeld primär immer ein hoher Streuverlust bei den Kommunikationsmaßnahmen zu befürchten. „Daher gilt es hier insbesondere, sehr selektiv und präzise vorzugehen, um das ja meist doch irgendwie limitierte Budget effektiv und effizient einzusetzen.“

Patienten und ihre Organisationen einbeziehen

Im Bereich Seltener Erkrankungen ist es vielleicht noch wichtiger als bei anderen Erkrankungen, die speziellen Bedürfnisse der Patienten zu verstehen. Von besonderer Bedeutung sei es daher, so Bruer, mit Expertinnen und Experten sowie Selbsthilfe- bzw. Patientenorganisationen zusammenzuarbeiten. „Hierbei ist ein medizinisch geschultes Kommunikationsteam unerlässlich, um die besonderen Bedürfnisse zu verstehen und dieses Verständnis in effektive Kampagnen umzusetzen“, betont der Agenturchef und Mediziner. Zudem benötige man präzises Wissen über die Strukturen im Gesundheitswesen und über Patientenströme: „Wann sucht welcher Patient wo nach Informationen, oder sucht er oder sie überhaupt aktiv danach? Es ist wichtig, Informations-Pull- und -Push-Kanäle zu kombinieren, um den bestmöglichen Output zu erzielen.“

Advisory Boards mit Expertinnen und Experten, Patientenorganisationen und auch mit Patientinnen und Patienten selbst sind nach Bruers Erfahrung ein sehr gut geeignetes Mittel, um echte Insights zu gewinnen, die dann in die Kommunikationsstrategie bis hin zu den einzelnen Wordings einfließen. Die Voraussetzung dafür, dass ein solches Advisory Board keine Zeitverschwendung ist, sondern die gewünschten Informationen liefert, sei eine kompetente Vorbereitung und stringente Organisation und Moderation – „gerade wenn Patientinnen und Patienten teilnehmen, gilt es, das Gespräch zu steuern, gezielt nachzufragen, und falls notwendig die Diskussionsgruppe auch wieder mal ‚sanft aber bestimmt‘ zum Kern des Themas zurückzuführen“, so Bruer.

 

Dr. Natascha Terp (2strom), Eric Seitz (PARTNERSEITZ), Yvonne Preller (Havas Life Berlin), Dr. Christian Bruer (21up)

 

Um Insights zu Patienten mit einer bestimmten Seltenen Erkrankung zu gewinnen, sei der direkte Dialog mit den Betroffenen und/oder ihren Patientenvereinigungen „unverzichtbar“, meint auch Natascha Terp. Denn diese böten fundierte Einblicke in spezifische Bedürfnisse und Versorgungslücken. Ergänzend dazu könnten Online-Communities und Social Media wertvolle Perspektiven liefern, beispielsweise durch Blogs oder Videos, in denen Betroffene ihre Erfahrungen dokumentieren. „Solche Inhalte ermöglichen ein tieferes Verständnis für die Alltagsrealität und die emotionalen Aspekte der Erkrankung“, so Terp. Da die Informationen aber oft begrenzt und der Zugang zu den Betroffenen nicht immer einfach sei, hält sie einen vielfältigen Ansatz für notwendig: Neben den genannten Quellen sollten auch europäische Institutionen, Patientenregister, medizinische Konferenzen und Fallstudien in die Recherche einbezogen werden. Nur durch die Kombination all dieser Perspektiven könne man ein umfassendes Bild gewinnen, das als Grundlage für bedürfnisorientierte Lösungen und Kommunikation dient.

Darüber hinaus sei eine Zusammenarbeit mit Patienten im Sinne einer Co-Creation ein wichtiger Bestandteil, um den Erfolg in der Kommunikation sicherzustellen. „Wir arbeiten bei Vanda Pharmaceuticals (Non-24 bei völlig blinden Menschen) mit Patienten zusammen in der Entwicklung von Content und Maßnahmen“, berichtet Terp. „Hierdurch werden nicht nur Insights gewonnen, sondern der direkte Weg zu anderen Betroffenen und Patientenvereinigungen geebnet. Tatsächlich wird jedes elektronische Material auf Barrierefreiheit durch die Patienten selber getestet und anschließend angepasst.“

„Insiderwissen“ von Betroffenen sei für die Content-Konzeption bei Seltenen Erkrankungen unverzichtbar, meint auch Yvonne Preller. Deshalb erfolge vor der Entwicklung neuer Kampagnen stets eine Befragung der Patienten durch Einzelinterviews oder Patient Adboards. „Im weiteren Verlauf arbeiten wir mit sogenannten Patient Influencern zusammen, die unsere Botschaften zu Disease Awareness und neuen Therapieoptionen authentisch und zielgerichtet an die Community weitergeben. Zudem profitieren wir von der Kooperation mit Patientenverbänden und Fachärzten, die als Experten in der jeweiligen Indikationsnische wertvolle Insights liefern und ohne die eine effektive Kommunikationsstrategie nicht möglich wäre“, so Preller.

„Sich als Agentur oder Marketingabteilung etwas auszudenken und zu entscheiden, wie die Patientenkommunikation am besten sein soll, ohne jemals mit den Betroffenen gesprochen zu haben, funktioniert im Rare-Kontext noch weniger als sonst“, sagt auch Eric Seitz. Patienten seien Experten ihrer Erkrankung, daher müsse man mit den Betroffenen sprechen, um das Leben mit einer Seltenen Krankheit sowie die individuellen Herausforderungen zu verstehen, und das gehe am besten in Workshops, Adboards oder Interviews. Mit dem Wissen könne man dann gemeinsam mit den Betroffenen in Co-Creation sinnvolle Unterstützungsangebote entwickeln, die die Situation der Betroffenen verbessern – und zwar ganz nach dem Motto der Selbsthilfe: „Nichts für uns ohne uns.“ 

Wie findet man die Patienten?

Die Identifizierung bislang undiagnostizierter Patienten steht bei Seltenen Erkrankungen häufig im Fokus der Pharmaunternehmen. Da es sich um Nischen-Zielgruppen handele, böten digitale Kampagnen die effektivsten Möglichkeiten, Betroffene zu erreichen – sei es durch gezielt SEO-optimierte Paid Ads oder durch die Nutzung der Reichweite bereits bekannter Patient Influencer“, so Preller. Diese Influencer fungierten als Zubringer, die die Zielgruppe zum Content Hub, etwa einer Website, führen.

Eric Seitz unterscheidet in der Laien-Kommunikation für Seltene Erkrankungen zwei Hauptgruppen: Zum einen Patient:innen, die bereits eine seltene Diagnose erhalten haben. „Diese erreichen wir klassischerweise über Patientenorganisationen, Selbsthilfegruppen oder Online-Netzwerke, wie beispielsweise LOUDRARE oder unrare.me. Die Community ist gut vernetzt und relevante Informationen werden schnell geteilt.“ Die andere Gruppe seien die Menschen, die noch auf der Suche nach der Ursache ihrer Beschwerden sind, „was ein wenig der Suche nach der Nadel im Heuhaufen entspricht“. Hier gehe es im Kern darum zu sensibilisieren, dass hinter bestimmten Symptomen auch eine Seltene Erkrankung stecken kann. „Das hilft im besten Fall, dass Mediziner, Betroffene oder deren Umfeld früher oder überhaupt erst eine Seltene Erkrankung in Betracht ziehen, was dann zu einer Diagnose führen kann.“

 

Mit der neuen Online-Plattform www.selten-vereint.de will
das Unternehmen Sobi zu Seltenen Erkrankungen informieren,
den Austausch Betroffener fördern und das Gefühl der
Zusammengehörigkeit stärken. Quelle: Sobi

 

PARTNERSEITZ hat für den Kunden Biogen beispielsweise die Awareness-Initiative „Ich hab Friedreich-Ataxie. Du auch?“ konzipiert: Betroffene zeigen ihr Gesicht und erzählen ihre Geschichten, um auf ihre Krankheit aufmerksam zu machen, anderen Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, und ein Zeichen gegen Stigmatisierung zu setzen. Ausgespielt wird unter anderem online, Out-of-Home auf Plakatwänden, im Umkreis von Kliniken und Kongressen, in der U-Bahn, in Fach- und Laienpresse sowie als Kinowerbung. „Von Beginn an wurden sowohl Betroffene als auch Patientenorganisationen in Konzeption, Entwicklung und Umsetzung der Initiative eingebunden und der Fokus auf maximale Authentizität gelegt. Die Betroffenen, deren Persönlichkeit und deren Geschichten stehen im Mittelpunkt“, beschreibt Seitz die Idee hinter der Initiative.

Dr. Natascha Terp nennt im Hinblick auf Erreichbarkeit mehrfache Herausforderungen: Die Ärzte müssten erreicht werden – und zwar sowohl die Allgemeinärzte wie auch die Fachärzte. Aufklärung müsse in hohem Maße betrieben werden und die Sensibilisierung für Seltene Erkrankungen sei zwingend nötig, um die durchschnittliche Diagnosezeit von sieben Jahren zu verkürzen. „Hier reden wir also über breit angelegte Kampagnen, die absolut unverzichtbar sind – „und im Hinblick auf die wenigen Patienten, die in einer breiten Öffentlichkeit erreicht werden müssen, oft organisatorisch und finanziell herausfordernd umzusetzen“. Zusätzlich müssten die (undiagnostizierten) Patienten erreicht werden – also die, die sich in dieser 7-Jahres-Diagnosephase befinden und zwingend auf Information und Unterstützung angewiesen sind. Auch hier könne man leider keinen „kleinen” Weg gehen, sondern im Idealfall den „breiten” – großflächige Aufmerksamkeit, so wie es jedes Jahr am 28. oder 29. Feburar, dem Tag der Seltenen Erkrankungen, passiert – oder wie der bereits erwähnte Kunde Vanda Pharmaceuticals eine Aufklärungskampagne im Radio betreibt. „Hier geht es neben der Patientenidentifikation vor allem um das Empowerment von Patienten“, so Terp. Andererseits müssten die Patienten, die bereits diganostiziert und/oder in Zentren sind, genau dort angesprochen werden, wo sich sich im Rahmen ihrer Behandlung bewegen: in Facharztzentren, Selbsthilfegruppen, Communities, oder bei spezifischen Veranstaltungen. 

Die Zielgruppen-Kriterien seien bei Seltenen Erkrankungen in der Regel präzise definiert, zum Beispiel nach Alter, Region, Symptomen. Mit den heute zur Verfügung stehenden Kanälen und Targeting-Möglichkeiten, insbesondere im digitalen Bereich, sei es in der Regel kein großes Problem, auch eine spitze Zielgruppe zu erreichen, sagt Dr. Christian Bruer. „Die viel größere Herausforderung ist es, eine geeignete Ansprache und einen funktionierenden Call-to-Action zu transportieren – hier ist es besonders hilfreich, einfühlsam, verständnisvoll und mit Expertise mit Patientinnen und Patienten kommunizieren zu können.“