Kneipp hat ihn 2023 gewonnen, Tetesept 2022 und die Zahnärztekammer Westfalen-Lippe 2020: den „Goldenen Zaunpfahl“. Diesen „Award für absurdes Gendermarketing“ bezeichnen die Akteurinnen und Akteure des klische*esc e.V. als medienwirksames Mittel, um Gendermarketing und seine „nachgewiesen einschränkenden Folgen für Kinder und Erwachsene einem breiteren Publikum bekannt zu machen und eine öffentliche Debatte anzustoßen“. Mineralstoffbrausetabletten im Kneipp-Sortiment, jeweils auffällig und stereotyp in rosa und grau sowie mit weiblichen und männlichen Comiczeichnungen versehenem Packungsdesign, waren das Kriterium für die Auszeichnung. 

Was ist das Problem?
Drogerieartikel finden sich häufiger in den unrühmlichen jährlichen Rankings. Kneipp streut neben Brausetabletten auch noch Badesalz in die Wunde: „Hier wird wie zu Zeiten der Firmengründung geschlechtergetrennt gebadet“, kommentiert die Jury des „Goldenen Zaunpfahls“ ihre Bewertung. Auf der Badesalz-Packung „Mein Liebling“ springen dem Betrachter Kätzchen oder Einhorn mit getuschten Wimpern auf einem rosafarbenen Hintergrund entgegen, auf der zweiten Version fahren – „Tatütata“ – vor einem dunkelblauem Hintergrund Fahrzeuge der Blaulichtfamilie. Jungs und Mädchen oder Männer und Frauen sind eben unterschiedlich und haben unterschiedliche Vorlieben. Wieso sollte sich das nicht in der Zielgruppenansprache wiederfinden?

„Viel zu oft gibt es ein Produkt mit Astronaut und Rakete in blau, und gleich daneben nochmal mit Prinzessin und Einhorn in pink. Kann natürlich Zufall sein, verfestigt aber gerade bei Kindern die Welt, in der sie leben und die sie noch kennenlernen. Und sie entdecken klar getrennte Wirkungsbereiche“, erklärt Jury-Mitglied Insa Thiele-Eich. Sie ist Metereologin, Klimawissenschaftlerin sowie Astronauten-Aspirantin für den Flug der ersten deutschen Frau ins Weltall. Weltall könnte dann zur Familientradition werden, denn ihr Vater ist der ESA-Astronaut Gerhard Thiele.

Ob und wann es auf die ISS geht, ist noch nicht fix, aber für den Aufenthalt seien auch gendersensible Forschungsprojekte geplant, wie Thiele-Eich in einem Interview am 9. Juni 2024 in der NDR-Sendung „DAS!“ erklärt. Auswirkungen auf Hormone, Blut oder die Knochendichte sollen bei der Mission an den Astronauten genderspezifisch untersucht werden; speziell werde auch der Sehnerv unter die Lupe genommen, denn ein Drittel der männlichen Astronauten büße bei einem Aufenthalt im All signifikant seine Sehkraft ein, bei weiblichen Astronauten haben man die Symptomatik lange Zeit nicht bemerkt – bis vor kurzem. Ob es genderspezifische Voraussetzungen für dieses Phänomen gibt, soll auf der Mission erforscht werden. 

Ungleichbehandlung erwünscht
Das, was in den oben genannten Beispielen in Sachen Gendermarketing auf die Spitze getrieben wird, ist im Kontext der Gendermedizin erwünscht: nämlich Ungleichbehandlung. Sie erinnern sich bestimmt an die gleichnamige Kampagne der Barmer aus dem Jahr 2021. Basierend darauf bündelt die Krankenkasse auch aktuell ihre Aktivitäten zu diesem Thema. Gleichberechtigung meine hier die Berücksichtigung der unterschiedlichen Gesundheitsversorgungs-Bedürfnisse von Mann, Frau und diversen Menschen, definiert Dr. Ursula Marschall, Leitende Medizinerin bei der Barmer. Neben Aufklärung und Sichtbarkeit engagiere sich die Barmer mit Innovationsprojekten auch für die tatsächliche Weiterentwicklung und Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Frauen.

Ein aktuelles Beispiel ist das vom Innovationsfonds geförderte Projekt „MeMäF“ (das Kürzel steht für „Verbesserung der Frauengesundheit mit einem digital unterstützten Versorgungsmodell für Mädchen und junge Frauen mit Menstruationsschmerzen“) in Kooperation mit der Berliner Charité. Im Rahmen des Projektes wird ein digitales und interaktives Schmerztagebuch für die Periode erprobt, das insgesamt 3.000 Mädchen und junge Frauen im Alter von 16 bis 24 Jahren bedienen. Durch die dreimonatige Dokumentation ließen sich Nutzerinnen mit hohem Risiko für eine Endometriose identifizieren. Aber auch Regelleistungen wie etwa die Brustkrebsfrüherkennung sowie spezielle Leistungen zur Stärkung der Frauengesundheit bietet die Barmer für ihre Versicherten an. Als Beispiel nennt Marschall hier die Übernahme der Kosten einer HPV-Impfung bis zum 26. Lebensjahr. 

Ressourcenverschwendung
Möglichst passgenau sollten therapeutische Lösungen in Form von Medikamenten oder auch in digitaler Form sein, betont Karen Gallist von Schmittgall Health. Und das nicht nur unter einem medizinischen, sondern auch unter einem wirtschaftlichen Aspekt betrachtet. „Anderenfalls spielen wir nämlich nicht nur mit der Gesundheit von Menschen, sondern vergeuden zudem wertvolle Ressourcen. Das können wir uns nicht zuletzt im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung gar nicht leisten“, so Gallist und geht fest davon aus, dass künftig immer mehr forschende Pharmaunternehmen diesen Aspekt bei der Entwicklung und Prüfung neuer Medikamente berücksichtigen werden, was in der Folge dann auch Einfluss auf die Kommunikation haben werde. 

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Aber apropos Ökonomie: „Geschlechtsspezifische Forschung erfordert zusätzliche finanzielle Mittel, das heißt in der Forschung müssen größere Studienpopulationen berücksichtigt werden“, sagt Yvonne Preller von Health4Brands. Das Invest ist mittlerweile ein Muss, denn seit dem 21. Januar 2022 sind in der EU klinische Studien mit einer geschlechterrepräsentativen Geschlechter- und Altersverteilung durchzuführen. Die klinische Forschung von bereits zugelassenen, älteren Medikamenten basiert weiterhin auf den nicht gender-adjustierten Daten. „Das bedeutet, dass die Ergebnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit der entsprechenden Medikamente nur eingeschränkt auf Frauen übertragbar sind. Eine nachträgliche geschlechtsspezifische Auswertung der Studiendaten ist nicht möglich“, stellt Dr. Britta Unruhe-Knauf, Director Medical bei Pink Carrots, fest. „Die Konsequenz könnte sein, dass Studien unter Umständen mit einer aus Frauen und Männern bestehenden Population wiederholt werden müssen, was mit erheblichen Kosten für die Pharmaunternehmen verbunden sein dürfte“, führt Unruhe-Knauf aus. 

Es muss in die Köpfe
In der Medizinerausbildung mittlerweile verankert, muss die breite Zielgruppe der HCP allerdings noch für dieses Thema sensibilisiert werden. „Wenn es darum geht, HCPs über ein bestimmtes medizinisches Thema zu informieren und sie dafür zu sensibilisieren, sind gezielte Awareness-Kampagnen besonders wirksam. Sie sind stark wissenschaftlich und nicht werblich geprägt und können unter anderem über folgende Maßnahmen erfolgreich ausgespielt werden“, zählt die Pink Carrots-Expertin Unruhe-Knauf auf:

• Fortbildungen für HCPs zum Thema anbieten (besonders CME-Fortbildungen werden sehr geschätzt),
• Key Opinion Leaders (KOLs) einbinden, die bei Symposien oder in Webinaren Vorträge über Gendermedizin halten oder in Expertenrunden darüber diskutieren,
• Forschungsergebnisse oder Whitepaper in Zusammenarbeit mit KOLs publizieren, 
• Sonderpublikationen und Advertorials in Fachmedien schalten, 
• mit Fachgesellschaften zusammenarbeiten, um eine größere Reichweite und Glaubwürdigkeit zu erzielen.

Dabei unterscheide sich die Vorgehensweise beim Thema Gendermedizin ihres Erachtens nicht von anderen medizinischen Themen, für die bei HCPs Aufmerksamkeit erweckt werden soll. Dass mittlerweile mehr Frauen als Männer zum Medizinstudium eingeschrieben sind, bringe schon einmal eine stärker weibliche Perspektive in die Versorgung, findet Marschall. In Wissenschaft und Forschung hat sich in Sachen Gendermedizin in der letzten Zeit einiges getan. An den Universitäten Bielefeld und Magdeburg wurden Professuren für geschlechtersensible Medizin eingerichtet, Kompetenzzentren für geschlechtersensible Medizin wie in Hannover oder einschlägige Netzwerke entstehen. Und wie sieht es bei der Patienten-Zielgruppe beziehungsweise der Öffentlichkeit aus? 

„Unterm Radar"
„Das hängt davon ab, wie sich ein Pharmaunternehmen positioniert hat“, meint Karen Gallist. Im Bereich der HIV-Therapie spiele Diversität schon sehr lange eine große Rolle. Richtung Öffentlichkeit werde dieses Engagement aber eher noch „unter dem Radar“ kommuniziert. „Da ist aus meiner Sicht kommunikativ noch längst nicht alles ausgeschöpft. Strategisch bieten sich hier Omnichannel-Awareness-Kampagnen Richtung Öffentlichkeit an.“

Ein anderes Beispiel stellen für Gallist Disease-Awareness-Kampagnen für Indikationen dar, in denen die Symptomatik geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich ist, wie eben im Bereich der MDD, Major Depressive Disorder. Hier könnten Aufklärungs-Kampagnen in Richtung Betroffener & Angehöriger zum einen echten Mehrwert in der (Früh-)erkennung liefern und zum anderen dabei gleichzeitig das Thema Gendermedizin mehr in den allgemeinen Fokus rücken. „Auch HCPs profitieren übrigens in dem konkreten Fall von einer geschlechtsspezifischen Aufbereitung, da auch hier die unterschiedliche Symptomatik noch nicht durchgängig präsent ist.“

Bei der Barmer bedient man sich der gesamten Bandbreite – von der Website, Newsletter und Social Media bis Pressearbeit, Mitgliedermagazin oder auch Plakat –, um Aufmerksamkeit für das Thema Gendermedizin zu schaffen. „Wie genau wir dann die Kommunikation aufbauen, ist natürlich kanalspezifisch“, sagt Ursula Marschall und führt aus: „In Social Media brauchen wir eher einen Überraschungseffekt, um überhaupt wahrgenommen zu werden, in der Pressearbeit vor allem Nachrichtenwert, etwa durch eine aktuelle Auswertung unserer Versorgungsdaten.“ Beispiel Vorsorge: Man wisse mittlerweile, dass Männer drastischere Bilder und eine andere Wortwahl brauchen, um sich überhaupt um einen Arzttermin zu bemühen. „Darauf muss das Gesundheitswesen reagieren.“ Allerdings gebe es auch bei Frauen Informationsbedarf. Wenn der Verdacht auf einen Herzinfarkt bestehe, riefen sie oft später den Krankenwagen als Männer, weil sie sich noch um ihre Familie sorgten. Dann erst kümmere Frau sich um sich selbst.

Auf dem Weg zur personalisierten Medizin
Britta Unruhe-Knaufs Erfahrung nach wird die Chance der geschlechtsspezifischen Kommunikation von Pharmaunternehmen bisher eher wenig genutzt. Diese beschränke sich oft darauf, in Informationsmaterialien über Indikationen, die nur Frauen oder nur Männer betreffen, von „Patientinnen“ bzw. „Patienten“ anstelle von „Patient:innen“ zu sprechen. Echte gendergerechte Kommunikation biete aber deutlich mehr Potenzial, um Patient:innen effektiv und nachhaltig zu erreichen. „Die künftigen Herausforderungen in der Medizin beziehungsweise allgemein in der Versorgung beziehen sich nicht mehr spezifisch auf das Thema Geschlecht oder Gender“, blickt Ursula Marschall von der Barmer in die Zukunft.

Stattdessen spielten viele weitere Faktoren eine Rolle, in denen Menschen sich unterscheiden und die zu unterschiedlichen Symptomen und Therapiebedarfen führten, etwa Alter, Größe oder Gewicht. „Die Zukunft der Gendermedizin ist die weitere Individualisierung medizinischer Leistungen.“ Auch Yvonne Preller verortet in der Gendermedizin große Chancen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und personalisierte Behandlungen zu entwickeln, die den spezifischen Bedürfnissen von Männern und Frauen gerecht werden: „Diese zukunftsweisende Entwicklung kann das Pharma-Marketing mit zielgruppenspezifischen Informationskampagnen unterstützen.“ Und somit geht es beim Gendermarketing in Pharma nicht darum, die Entstehung von Geschlechtsstereotypen zu fördern, sondern darum, hierin liegende Ressourcen der hochgradig personalisierten und damit bestenfalls effizienten Patientenansprache zu heben.

Ein Blick nach rechts oder links, kann sich allerdings doch lohnen: „Die Kosmetik-Industrie hat das ja schon vorgemacht“, gibt Karen Gallist an. „Da gibt es zum einen Produkte, die speziell für Frauen oder Männer entwickelt wurden. Natürlich kann man ein hochethisches Produkt wie ein Rx-Arzneimittel nicht mit einem Kosmetikum vergleichen. Adressat sind hier auch nicht die Consumer, sondern HCP. Aber bei der Vermarktung gelten im Wesentlichen dennoch dieselben Grundsätze – selbstverständlich immer unter Berücksichtigung des Heilmittelwerbegesetzes.“