Herr Tusche, Herr Grüterich, als Spezialisten für Digital-Health-Anwendungen sehen Sie eine zunehmende „Amazonisierung“ des Gesundheitswesens. Was genau verstehen Sie unter diesem Begriff?
Grüterich: Amazon war im Prinzip von Anfang an als Plattform konzipiert, auf der Anbieter und Käufer zusammenkommen. Ich denke, es ging nie in erster Linie darum, einzelne Bücher oder andere Artikel zu verkaufen, sondern eine Plattform zu schaffen, auf der viel passiert, die schnell bekannt wird und dann auch schnell wächst. Das hat Amazon im Bereich Handel sehr erfolgreich geschafft, aber wir sehen das auch bei den Amazon Web Services, kurz AWS, wo man Cloud Computing und Cloud-Anwendungen betreiben kann. Das ist wie ein großer Eisberg, von dem die meisten nur einen kleinen Teil sehen. Aber Amazon ist da sehr aktiv. Gerade im Gesundheitsbereich wird diese Plattform auch stark beworben. Was wir vor diesem Hintergrund unter „Amazonisierung“ verstehen, ist der Gedanke, dass jeder Big Player, also auch Google, Facebook, Apple, Microsoft und andere, ein großes Auge auf die Gesundheitsbranche wirft, weil sie ein Riesenpotenzial hat. Der Plattform-Gedanke ist im Gesundheitswesen sehr lukrativ, und Amazon unternimmt auf diesem Feld, zumindest in den USA, schon eine Menge. Es ist naheliegend, beim Stichwort Amazon erstmal an das klassische Online-Pharmacy-Geschäft zu denken, aber die Tech-Unternehmen sehen natürlich noch ganz andere Möglichkeiten – insbesondere was die Nutzung von Daten betrifft. Unter Amazonierung verstehen wir in erster Linie das Zusammenbringen von verschiedenen Playern auf einer digitalen Plattform.
Tusche: Das ist auch der logische nächste Schritt. Die internen Prozesse und Technologien, die Amazon verwendet, haben sie von Anfang an sehr stringent so implementiert, dass sie auch für die Allgemeinheit als Services zugänglich sein können. Genau daraus ist AWS entstanden. Wenn man sich in der Startup-Szene umsieht, losgelöst vom Medical-Bereich, ist AWS sehr häufig die erste Anlaufstelle: Ich kann mir sehr schnell, sehr einfach und sehr benutzerfreundlich diverse Services dazuholen, ohne die entsprechende Hardware und Expertise selbst im eigenen Haus vorhalten zu müssen. Da hat AWS in den letzten Jahren sehr gute Arbeit geleistet und sich damit im Markt etabliert. In letzter Zeit hat man auch sehr viel investiert, um beim Thema Datenschutzkonformität Vertrauen zu schaffen – zumindest sieht es nach außen so aus – um auch den Bereich HealthTech als Geschäftsbereich zu erschließen.
Beim Thema Datenschutz bestehen aber dennoch häufig Zweifel.
Tusche: Gerade Behörden wie das BfArM sehen das extrem kritisch, zum Beispiel im Bereich der DiGA. Der entsprechende Leitfaden zielt sehr deutlich auf die großen HealthTech-Unternehmen und Hyperscaler aus den USA ab. Sobald AWS oder andere globale Cloud Services im Spiel sind, betrachtet das BfArM das sehr kritisch, und auch die Landesdatenschutzbehörden legen die DSGVO in letzter Zeit eher immer restriktiver aus, so dass man gar nicht genau weiß, wo der Weg hingeht. Selbst wenn heute etwas in Ordnung ist, weiß man nicht genau, wie die Behörden das in Zukunft werten. Und das birgt natürlich ein gewisses Risiko, wenn ich ein digitales Produkt langfristig betreiben möchte. Es ist also nicht frei von Risiken, aber es birgt auch große Chancen.
Es gibt immerhin diverse Mechanismen, mit denen wir die Vorteile von Cloud Services nutzen können, beispielsweise die Massendatenhaltung und auch die Analyse dieser Daten, aber wir müssen Vorkehrungen treffen. In der Form, dass wir die Daten, anhand derer man Personen identifizieren kann, strikt von den medizinischen Daten trennt, so dass man von den medizinischen Daten nicht mehr auf eine bestimmte Person zurückschließen kann. Dann kann man diese anonymisierten Daten auch an Cloud Services geben und die Vorteile der Services nutzen. Umgekehrt muss man aber die Daten, anhand derer die Personen identifizierbar sind, strikt verschlüsseln und den Zugriff darauf streng reglementieren. Am besten außerhalb von AWS – das BfArM würde das bei einer DiGA auch gar nicht akzeptieren. Wenn diese strikte Trennung gegeben ist, kann man auch mit dem BfArM über solche Ansätze sprechen.
Die Behörden sind das eine, aber wie groß ist denn die Bereitschaft von Patient:innen, Daten zu teilen?
Tusche: Die Erfahrung zeigt, dass Menschen grundsätzlich bereit sind, ihre Daten für Studien zur Verfügung zu stellen. Aber nur unter einer Voraussetzung: Man muss Vertrauen schaffen und die Patient:innen müssen einen Mehrwert darin erkennen. Und zwar den, dass ihnen dabei geholfen wird, ihr tägliches Leben zu bewältigen. Wenn man transparent kommuniziert und ganz offen sagt, zu welchem Zweck man die Daten erheben möchte, und das Ganze datenschutzkonform ist, sind die Vorbehalte geringer, als häufig angenommen wird.
Der Erfolg einer DiGA hängt aber auch ganz entscheidend von der Akzeptanz bei Ärztinnen und Ärzten ab. Wie beurteilen Sie diese?
Grüterich: Natürlich sind die Ärzte der Schlüssel, damit die DiGA überhaupt genutzt werden. Sie müssen sie schließlich verschreiben und auch dahinter stehen. Zu diesem Thema gibt es sehr unterschiedliche Untersuchungen, es hängt auch sehr stark von der Indikation ab. Viele DiGA sind im chronisch/somatischen Bereich angesiedelt, und da ist die Akzeptanz deutlich größer als zum Beispiel bei akuten körperlichen Beschwerden.Man kann es also gar nicht eindeutig beantworten, aber allen Herstellern ist bewusst, dass Aufklärung die zentrale Baustelle ist. Deswegen gibt es ja zum Beispiel mit „DiGA info“ eine Gesellschaft, in der sich Hersteller von DiGA zusammengeschlossen haben, um medizinische, praxisrelevante Fachinformationen zum neuen Versorgungsbereich der Digitalen Gesundheitsanwendungen zu bieten und Ärzte in diesem Bereich zu motivieren. Mindestens zum Teil ist das auch dringend notwendig. Denn der Arzt als einzelner hat keinen großen Vorteil davon, eine DiGA zu verschreiben, und manche haben wohl auch die Sorge, sie müssten da auch noch irgendeinen Support leisten. Und das Thema Datenschutz und Vertrauen ist nicht nur für Patienten, sondern auch für die Ärzte enorm wichtig.
Tusche: Vertrauen ist das eine, aber aus Sicht der Anbieter kommt ja noch ein weiterer Aspekt hinzu: Mit Verletzungen des Datenschutzes will niemand in der Presse erscheinen, denn dann hat man ein großes Reputationsproblem. Gleichzeitig kann die Ahndung eines solchen Verstoßes wirtschaftlich zu einem Problem werden. Es darf einem in diesem Bereich kein Fauxpas passieren.
Überwiegen denn Ihrer Meinung nach die Chancen der „Amazonisierung“ ihre Risiken?
Grüterich: Es geht darum, einerseits die Vorbehalte zu überwinden und andererseits die Vorteile für alle Akteure zu sehen. Man muss akzeptieren, dass lange etablierte Grenzen auch mal eingerissen werden. Wir müssen von dem Silodenken wegkommen. Wenn es um Plattformen wie gesund.de geht, wo man sich vorstellt, dass dort Ärzte und Apotheken zusammen agieren, dann bietet das riesige Chancen, gerade auch für die Patienten. Aber es erfordert eben auch eine gewisse geistige Beweglichkeit bei allen Akteuren zu akzeptieren, dass ich dort die Mitbewerber direkt neben mir habe.
Tusche: Letztendlich bieten sich wahnsinnig große Chancen. Es ist utopisch zu denken, man könne all das, was die Hyperscaler an Services anbieten, nachimplementieren, nur weil man sie außen vorlassen möchte. Man sollte sich der technischen Errungenschaften, die bereits vorhanden sind, bedienen und sich als Hersteller darauf konzentrieren, wie ich auf dieser Basis medizinischen Nutzen schaffen kann. Ich sehe vor allem die riesige Chance, dass wir mithilfe der Digitalisierung endlich mal einen großen Sprung machen könnten, gerade im medizinischen Bereich.
Die Technik kann also zum medizinischen Fortschritt beitragen, wenn man sie richtig einsetzt?
Grüterich: All das, was durch die Digitalisierung an Daten und damit auch an möglichem Wissen generiert wird, wenn zum Beispiel Dinge über eine längere Strecke verfolgbar werden und sie dann zusammenfließen, kann das einen sehr großen Erkenntnisgewinn ermöglichen. Momentan hat jede Einrichtung ihren Datensilo und es gibt keinen Austausch, auf diese Weise geht unheimlich viel verloren. Das Potenzial, was man über Gesundheit noch lernen könnte, ist gigantisch. Es wäre toll, wenn man dieses Potenzial – natürlich mit anonymen Daten – eines Tages endlich mal heben könnte.
Tusche: In Zukunft wird es vermehrt um individuelle Therapien gehen. Darum, dass man anhand von Big Data analysieren kann, was für die eine oder die andere Indikation die Therapie schlechthin ist. Da brauchen wir die Erkenntnis, welches überhaupt die richtigen Indikatoren sind und was alles berücksichtigt werden muss. Um dann individuelle Rückschlüsse ziehen zu können. Wir müssen wegkommen von den Standardtherapien, bei denen alle über einen Kamm geschoren werden. Aus heutiger Sicht ist die klassische Medizin an vielen Stellen sehr einseitig. Das wird zwar schon an vielen Stellen durchbrochen, aber jetzt haben wir die ganz große Chance, es mit einem Big-Data-Ansatz mit fundierten Informationen zu versehen.
Grüterich: Wir erleben, dass die Fantasie in den letzten Jahren Flügel bekommen hat, was mit der Technologie alles machbar sein könnte. Für mich ist das insgesamt eine sehr positive Entwicklung. Bei allen Sorgen, die man in Bezug auf das Thema Regulation und Datenschutz zu Recht hegt, sollte man sich aber bei den Möglichkeiten, die sich bieten, nicht selbst völlig beschneiden.
Herr Grüterich, Herr Tusche, vielen Dank für das Gespräch.